
Das Leben der Anderen
Und ich mittendrin
Was willst du hier?
Du bist doch nur der Nächste, der sagt: “Wir sind anders als die anderen!”
Hör ich jedes Mal – und jetzt:
“Verpiss dich!”
So oder so ähnlich ist die anfängliche Haltung vieler jugendlicher Systemherausforderer, denen ich in meiner Arbeit begegne. Was mich dabei immer wieder überrascht: Wie nah ich meinen Klienten in der Zusammenarbeit dann komme, obwohl mir anfangs häufig eine große Abneigung entgegenschlägt – allein, weil ich Pädagoge bin.
Plötzlich stehst du mittendrin
Ins Leben eines jungen Menschen eingetreten, ohne darum gebeten worden zu sein. So nah wie sonst wohl niemand – außer vielleicht Menschen, die bereits seit Jahren privat an seiner Seite sind.
Das Leben unter der Lupe – kein Detail bleibt verborgen.
Entweder, weil es bereits seit Jahren in Berichten dokumentiert wird – eine regelrechte Jugendhilfekarriere. Oder weil es sich dir offenbart. Weil es gar nicht anders geht. Als Sozialarbeiter bist du unweigerlich nah dran – besonders in der stationären Jugendhilfe, in Betreuten Wohnformen oder Wohngruppen. Einzelfallhilfe auf der Mikroebene.
Eine Profession wie Ärzte – doch ganz anders
Sozialarbeiter dringen – wie Ärzte oder Anwälte – in die sensiblen Bereiche des Lebens vor. Alles, was man einem Menschen nicht ansieht, wird offengelegt: Krankheiten, Störungen, Straftaten – und all die anderen unvorstellbaren Abgründe des Lebens.
Ärzte allerdings leben in einer Komm-Kultur. Du – als Patient – musst hingehen, wenn du etwas willst. Hin, wenn du krank bist. Dann verschwindest du wieder aus der Praxis – und kommst vermutlich (hoffentlich) lange Zeit nicht zurück. Zumindest wünsche ich dir Gesundheit und wenig Arztbesuche.
Wenige Augenblicke später sitzt der nächste Patient im Behandlungszimmer.
Deine Akte: geschlossen.
Dein Anliegen: vom nächsten überlagert.
Die Lebensbereiche sind sensibel – die Verweildauer aber kurz. Und wer mehr als fünf Minuten bei seinem Hausarzt bekommt, kann sich wohl glücklich schätzen.
Unsere Klienten hingegen werden untergebracht. Wir – als Sozialarbeiter, vom Jugendamt beauftragt – suchen sie auf. Und wir bleiben. Werden zu einer Konstanten, auch wenn wir nicht erwünscht sind.
Ein Sozialpädagoge bleibt oft lange – manchmal ein Leben lang – im System eines Menschen bestehen. Ich habe das erlebt. Bis heute. Auch 25 Jahre nach dem ersten Tag meiner Begegnung mit M. im Jahr 2000 besteht diese Verbindung. Aus einem fremden Mann wurde eine Bezugsperson, die ihresgleichen sucht.
Aller Anfang ist Zwang – trotz Wunsch und Wahlrecht
Kaum ein Klient in der stationären Jugendhilfe wünscht sich die Zusammenarbeit mit Sozialpädagogen. Besonders im Arbeitsfeld mit Systemherausforderern, die eine regelrechte Jugendhilfekarriere hinter sich haben, bist du als Pädagoge das Feindbild. Das Jugendamt hat ihre Familie zerstört – und irgendwie gehörst du dazu.
Die “Fick-dich-Haltung” ist nicht selten. Abweisung und Misstrauen sind die Regel.
Um dieses Misstrauen stückweise in Vertrauen umzuwandeln, braucht es vor allem eins: Zeit.
Und Zeit ist knapp, wenn Jugendliche mit 16 Jahren in der fünften, sechsten oder siebten Einrichtung aufgenommen werden.
Zudem ist in der aktuellen (politischen) Situation spürbar, dass Jugendämter verstärkt auf ein Hilfeende mit Vollendung des 18. Lebensjahres hinwirken – oder eine Umstellung wünschen (von §34 auf §30). Von vollstationär auf ambulant. Weniger Präsenz und Betreuungsstunden auf Abruf, mit geringerem Kontingent. Dabei ist Hilfe für junge Volljährige bis 21 Jahre gesetzlich möglich.
Beim Abbau von Misstrauen und dem Aufbau einer tragfähigen Beziehung wirst du als Sozialpädagog:in unweigerlich in die Lebensumstände deiner Klienten verstrickt.
Diese Verstrickung macht es schwer.
Diese Verstrickung macht den Unterschied.
Verhandeln statt behandeln
Es wird verhandelt – nicht behandelt.
Pädagogen reichen keine Pille – sie reichen Hände und gehen damit eine Beziehung ein.
Der Klient ist und bleibt der Experte für sein Leben. Für seine bisherigen Lösungsstrategien und seinen Umgang mit der eigenen Geschichte wird er gute Gründe haben. Diese gilt es zu respektieren und anzuerkennen – auch wenn sie manchmal schwer nachvollziehbar sind.
Lebensweltorientiert mit dem Klienten zu arbeiten, bedeutet nicht nur, dort zu sein, wo der Klient lebt. Es sind nicht die Wohnungen, nicht die Straße, nicht der Stadtteil, die die Arbeit ausmachen – es ist der Perspektivwechsel.
Es bedeutet, die Perspektive des Klienten einzunehmen: seinen Blick aufs Leben. Seine Sicht auf Probleme. Und gemeinsam mit ihm an dem zu arbeiten, was ihm wichtig ist – ohne sich dabei über ihn zu stellen.
Sozialpädagogen sind keine Autoritäten im weißen Kittel. Ein übliches Missverständnis aus der Praxis: Problem identifizieren – Methode wählen – Intervention starten.
“Häufig wird erwartet, dass wir Sozialpädagogen mit einer Methode ´ankommen´ - dabei kommen wir in erster Linie, um zuzuhören.”
Es geht darum, in Beziehung zu gehen, ohne sie zu erzwingen. Das würde ohnehin nicht funktionieren – und wir Sozialpädagog:innen kämen auch aus berufsethischer Hinsicht in Erklärungsnot.
Die Beziehung in den Vordergrund – nicht die Maßnahme
Macht in Beziehungen ist und bleibt ein zentrales Thema. Die Frage, die sich daraus ergibt:
Wie gestaltet sich eine belastbare Beziehung, wenn man näher kommt, als manche Freunde und Bekannte je zuvor - und gleichzeitig den Auftrag hat, typische Jugendhilfe-Ziele zu erreichen? (Schulabschluss, Ausbildung, Therapie usw.)
In diesen Phasen daneben zu stehen und mitzuerleben, wie junge Menschen eigenständig Entscheidungen treffen – obwohl vermutlich negative Konsequenzen folgen – gehört dazu.
Genau hier zeigt sich die Bedeutung einer belastbaren Beziehung.
Diese Beziehung ermöglicht es Jugendlichen, sich zu öffnen und im Anschluss über ihre Erfahrungen zu sprechen – auch wenn ich als Pädagoge die Wand gesehen und vor ihr gewarnt habe. Es ist okay, dagegenzulaufen. Wir alle haben unsere Erfahrungen gemacht – und nicht auf Eltern, Lehrer oder Freunde gehört.
Jetzt ist es wichtig in Kontakt zu bleiben – sich als Pädagoge weiter verstricken zu lassen. Nah sein, ohne sich zu verlieren.
Dafür braucht es ein gutes Team – Kolleg:innen, die dich sehen und von denen du jederzeit offen und ehrlich Feedback annehmen und einfordern kannst.
Keine zweite Meinung möglich
All das spielt bei einem Arztbesuch keine Rolle. Gut, wenn wir unseren Arzt sympathisch finden – aber wir müssen keine Beziehung zu ihm aufbauen. Wir lassen uns untersuchen und behandeln – und wenn nötig holen wir uns eine zweite Meinung.
Nichts davon können die Klienten in meiner Praxis.
Trotz Wunsch und Wahlrecht haben sie häufig keine andere Alternative. Keine zweite Meinung. Keine Einschätzung eines anderen Jugendamtes.
Vertrauen in Institutionen? Für viele längst verloren.
Burnout und Überlastung in Sozialen Berufen
Ein Kollege, der Freunde in medizinischen und juristischen Berufen hat, berichtete aus deren Perspektive über ihre Praxis. Auch sie seien in ihrem Arbeitsalltag mit schweren Schicksalen und belastenden Fällen befasst. Doch es sei nicht die Norm und sie bauten in der Regel auch keine intensiven Beziehungen zu ihren Patienten bzw. Klienten auf. Die Verantwortlichkeiten sind einfach anders Verteilt.
Wie viele Patienten sieht ein Arzt am Tag? Ich weiß es nicht – doch die Wartezimmer sind voll.
Ich betreue vier bis sieben Jugendliche – gemeinsam mit einem oder mehreren Kolleg:innen. Einige meiner Klienten sehe ich mehrmals täglich. Das ist intensiv, anstrengend und gleichzeitig notwendig.
Das Burn-Out-Risiko in den Sozialen Berufen ist seit Jahren Dauerthema. Bereits vor zehn Jahren gab es Meldungen zu Überbelastung. Geändert hat sich wenig – es fehlen mehr Fachkräfte, als ausgebildet werden.
Und Du?
Wie siehst du das?
Sind Sozialpädagog:innen mehr – oder einfach anders – belastet als Angehörige der anderen Professionen?
Schreib mir in die Kommentare, was du dazu denkst?
Oder an: quatschen@dennisheukamp.de
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Ich freu mich drüber.
Beste Grüße
Dennis
Quellen
https://www.juraforum.de/lexikon/profession#was-versteht-man-unter-einer-profession-im-juristischen-sinne
https://www.ifsw.org/global-social-work-statement-of-ethical-principles/
https://www.verdi.de/themen/arbeit/++co++8a863864-c8b3-11ed-8e7c-001a4a16012a
https://www.hans-thiersch.de/lib/exe/fetch.php?media=elementare_einfuehrung_lwo_2019.pdf